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LESESTOFF

"Ich bin die Meistergrüblerin. Schade, dass ich
nicht vom Grübeln leben kann." 

>> Ich hätte mehr in der Gegend herumgeträumt. Ausgeschlafen, als ich es noch konnte.

Mehr getanzt, mehr Bier getrunken, Kuchen gegessen und geknutscht. Ich hätte mich öfter hingesetzt. Gequatscht. Ich hätte ab und zu Dinge, die ich heute hätte besorgen können, auf morgen verschoben. Und zwar ohne guten Grund. Und ich hätte mir vielleicht auch mal gesagt, dass ich es gut mache. Einfach so.<<

Zt. >> GUT. GENUG. <<

Du verlässt dich auf ein Licht,

dessen Schalter nicht du besitzt,

wenn du einer Welt, die so unbeständig ist, erlaubst, 

dich zu besitzen.

Zt. >> FREIHEIT <<

"Wir machen uns so viele Gedanken über uns selbst. Weil das alle tun,

haben wir keine Zeit,

zu bemerken,

ob die andere alles richtig macht.

Oder den Stress, den sie dabei hat, es zu versuchen."

Zt. >> FREIHEIT <<

Welchen Zweck hat die Toleranz, wenn sie vor Arroganz strotzt und jedes Mal vor Aufregung kotzt, wenn sie mal aktiv werden soll?

Zt. >> SAG NOCH EINMAL TOLERANZ <<

"Müssen wir uns wirklich damit plagen, zu allem eine Meinung zu haben?
Dass uns der Zeigefinger nicht abfällt, so oft, wie der in der Luft hängt und verzweifelt in alle Richtungen wedelt."

Zt. >> SAG NOCH EINMAL TOLERANZ <<

>> Es regnet seit Tagen. Ich komme nicht mehr aus der Trainerhose raus und mein Inneres fühlt sich an wie das durch Staunässe matschig gewordene und vor sich hin stinkende Etwas in meinem Blumentopf. Da sollte doch eigentlich was wachsen, nicht schwimmen!
Andere verlieben sich im Frühling oder besaufen sich in der Steinberggasse. Ich überlege, ob ich noch was Gescheites mache und sehe mir Studiengänge an. Und ich grüble. ich frage mich, warum es so viele Menschen gibt, die bei diesem Wetter niemals Glacé essen würden. Für mich ist jedes Wetter Glacéwetter. Es grillen ja auch alle Würste, wenn die Sonne brennt. Und gerade jetzt habe ich Bock auf Glacé! Leider haben wir keins im Gefrierfach. Weil ich den Kindern beim Einkaufen gesagt habe, wir würden bei diesem Wetter bestimmt kein Glacé kaufen. <<

Zt. >> EINMAL EINFRIEREN BITTE <<

>> Ist doch krass, wie schnell sich alles verändert. Als ich Kind war, hiess es noch, wir sollen bei übermässig tätowierten und farbighaarigen Menschen mit Irokese vorsichtig sein. Und Rauchen war ganz schlimm. Polyamorie war nicht mal ein Wort. Zumindest in meiner Welt nicht.
Heute kratzen crazy Haare niemanden mehr. Die langweiligsten Leute sind tätowiert, ich inklusive. Unsere Eltern haben sich an knutschende Frauen auf dem Trottoir gewöhnt und meine Kinder könnten ob der Tatsache, dass der Onkel einen Mann, den er liebt, zum alljährlichen Wanderwochenende mitnimmt unaufgeregter nicht sein. Freund:innen diskutieren beim Feierabendbier darüber, wie oft sie das gleiche Gschleik haben dürfen, bevor wieder gewechselt werden muss, oder ob die Schwiegereltern schon bereit dafür sind, die Dritte im Bunde kennenzulernen. Bekommen beide ihr eigenes Tinderprofil, oder schmeissen sie sich als Pärchen auf den Markt? In der Zeit, in der sich Sachen von totgeschwiegen über offen diskutiert hin zu völlig normal bewegen, schlafe ich noch meinen 30-something-Kater aus. << 

 

MACHT DEN BADWANNENBISLERN – Hin und wieder verspüre ich den Wunsch, Kontrolle rückzugewinnen in dieser durchgeknallten, sich ständig neu erfindenden Welt. Hinterherhinken ist ätzend, ich will mich auch mal wieder mächtig und überlegen fühlen. Dieses Gefühl hole ich mir in meiner eigenen kleinen Welt manchmal zurück. Zum Beispiel, indem ich Unmengen an Kaffee trinke, nur, weil es mich von dem Haufen durchgeknallter Kinder abhebt, mit dem ich mich abgeben muss. Und weil es etwas von dem Wenigen ist, das sie mir nicht streitig machen. Manchmal trinke ich Cola aus einer Tasse und behaupte, es sei Kafi. Das ist echte Macht. Oder ich rauche während der Siesta auf dem Balkon, anstatt die Küche zu machen. Einfach, weil ich kann. Im verhassten Hallenbad entschuldige ich mich regelmässig aufs Klo und gehe dann einfach lange und so richtig heiss duschen.

Ich sage: Wer Macht will, braucht Geheimnisse. Nicht die Art von Geheimnissen, die uns selbst und andere zerstören. Ich spreche von süssen Geheimnissen, die uns ein verlegenes Lächeln aufs Gesicht zaubern, wenn wir an sie denken. Deren öffentliche Bekanntheit uns etwas peinlich wäre. Aber weil nur wir sie kennen, geben sie uns Macht. Ich finde, wir armen getriebenen Menschen sollten alle ab und zu in die Badewanne pinkeln, nackt staubsaugen oder verschimmelte Hefewürfel zum Nachbarn in den Garten werfen. Von letzteren habe ich immer genügend da, falls wer welche braucht. Ich backe das Brot nämlich doch nicht so oft selbst, wie ich immer tue. Oops, verplappert.               

SUPERMUTTI – Ich sitze auf dem Häuschen und bewundere einen straffen Hintern am Strand. Fucking Instagram. Ich sehe anderen beim Leben zu, statt mich auf mein eigenes zu konzentrieren. Ein Kind fragt etwas. Die Frage prallt an mir ab – ich bin noch in die Bewertung meines Hintern vertieft und in ein Bild von einem mir fremden Kind beim Abfalleinsammeln. #Selinakämpftfürsklima #nocutekidsonadeadplanet. Das Girl mit Häkelmütze und Biofilzwolle-Onesie würde vielleicht lieber im Park spielen, statt die Welt zu retten. Vielleicht lieber frieren, als in der Biofilzwolle zu schmelzen. Freundschaften schliessen, statt die Follower ihrer Mutter zu influenzen. Jetzt stürmt das Kind und ich schäme mich. Was sind wir nur für sehnsüchtige Tunichtgute. Die wenige Mutter-Kind-Zeit, die wir uns gönnen, verbringen vor Hipsterkaffeefenstern. Das Kind stellen wir mit Babyccino im biologisch abbaubaren Becher ruhig ­– wir wollen ungestört unseren Flat White mit Haferdrink schlürfen und Inspiration fürs Alltagsoutfit auf Pinterest finden. In letzter Zeit verspüre ich öfter den Drang, einen Café Crème zu bestellen. Etwas in mir schreit nach Einfachheit und Normalität. Nur weiss ich nicht mehr, was «normal» ist. Ich weiss nur, dass ich müde bin. Chronisch überfüttert mit Bildern, Informationen und Ideen. Ich wüsste gerne das Geheimnis der modernen Mutter. Die einkocht und backt. Die plastikfrei durchs Leben geht. Die keine Termine verkackt und immer Zeit findet für Kaffee und Sport, stets ein freundliches Wort auf den rot bemalten Lippen. Die «Genusszigis» raucht. Nur so viel Bier trinkt, dass am Morgen kein Kater den Weg ins Yoga versperrt. Muskelkater kriegt sie nie. Sie tanzt die Nacht durch und backt anschliessend noch Bananenbrot für den Brunch. Sie besitzt keinen Plunder. Die geilsten Sachen findet sie auf Tutti und Ricardo. Sie töpfert ihre Tassen selbst, während ich das Gefühl habe, ich hätte nicht mehr alle im Schrank. Shit – wahrscheinlich denkt man über mich, dass ich eine von ihnen bin. Wie peinlich. Ich könnte bewundert werden. Lächerlich. Wenn ich zusammenbreche und von der Bildfläche verschwinde, muss das meine Familie ausbaden. Das Publikum auf Instagram sucht sich einfach eine neue Supermutti. 

LEGOLASS – Lego können bei mir mittelschwere Depressionen auslösen. Sie machen gefühlt einen Drittel unseres Haushaltes aus. Ich werde nie verstehen, wie man ein Set auseinandernehmen und die Teilchen im Chaos verschwinden lassen kann, ohne sich daran zu stören. Überhaupt habe ich wenig Verständnis für Menschen, die nicht vorausdenken. Gleichzeitig beneide ich sie, weil sie allgemein mehr Spass haben als ich. Kürzlich sass ich schluchzend und schnuddernd inmitten der farbigen Plastikpracht. Das war armselig. Ich glaube, spätestens da haben die Kinder gemerkt, dass ich nicht ganz dicht bin. Bei uns herrscht die Annahme, dass ich mit verbundenen Augen die verschollene Mütze, den einen Handschuh oder das Schulheft aus dem Nichts hervorzaubern kann – die Suchmaschine wird jedes Mal sehr unfreundlich zum Tatort zitiert, wenn etwas nicht innerhalb von 2 Sekunden auffindbar ist. Das Problem: Ich finde alles. Ich habe Superkräfte. Ich zaubere Dinge, die seit Ewigkeiten gesucht werden, aus dem Nichts hervor. Das Nichts ist oft der Ort, wo sie auch sinngemäss hingehören. Ich mag Ordnung. Und ich trage Sorge. Im wahrsten Sinne des Wortes. Der Rest der Familie hat kein Problem damit, Dinge loszulassen. Ist doch schnurz, wenn man aus dem U-Boot nur noch ein Floss bauen kann, oder dass es die Mütze in dieser Farbe nicht mehr gibt. Aber warum sich einen Ninja Palast wünschen, wenn man daraus eine Villa Kunterbunt baut? Ich hatte das Drama eigentlich provoziert. Einen Tag zuvor hatte ich nämlich in einem Anflug von Kontrollsehnsucht angefangen, alles nach Farben und Formen zu sortieren. Beim Spielen gilt das gleiche Prinzip wie beim Kacken: Am liebsten in eine saubere Schüssel! Seit ich Kinder habe, merke ich erst, was für ein notorisches Huhn ich bin. Keine schöne Erkenntnis. Ich sage oft, ich wäre gerne wieder so entspannt wie früher. Aber war ich das? Ich glaube, ich will die Antwort gar nicht wissen. Ich will einfach glauben, dass es so war. Und ich denke, ich kann ein schöneres Leben haben, wenn ich die Legosteinchen und die Chaoten sich selbst überlasse und mir eigene Hobbies suche

NON-WORKING MUM – Wenn ich den Hashtag #workingmum unter einem Post sehe, möchte ich nicht in die Hände, sondern mir an die Stirn klatschen. Mal angenommen es gibt so was wie working mums, dann muss es ja auch non-working mums geben. Die liegen wahrscheinlich den ganzen Tag in der Sonne und studieren Modezeitschriften. Und zu denen gehöre dann wohl ich. Eine Künstlerin. Bisher ohne grossen Erfolg. Die Durchbruchsaltersgrenze langsam überschritten. Früh Mutter geworden. Die Jobs, die meinen langen aber unspektakulären Lebenslauf zieren, waren hauptsächlich schlecht bezahlte Anstellungen in der Gastronomie. Zur Finanzierung meiner Selbstverwirklichung. Einige Praktika fürs angedachte Studium, meinen Plan B, zu dem es nie kam. Ich bin nicht eine, die hundert Sachen anfängt und nichts zu Ende bringt. Aber irgendwie waren da plötzlich drei kleine Kinder und ein Mann, der mit beiden Füssen fest in der Berufswelt stand. Unser klassisches Familienmodell machte in der Situation am meisten Sinn.

Ich bin top organisiert, wenn es darum geht, mir Freiraum zu verschaffen. Ständig in irgendwelche Projekte involviert, habe ich nicht grundsätzlich das Gefühl, zu kurz zu kommen. 

Trotzdem stellte ich neulich, als ich wieder einmal gefragt wurde, was ich denn arbeiten würde, fest, dass mich die Frage immer noch unangenehm berührt. Es fällt mir schwer, die Antwort „ich schaffe nöd“ selbstbewusst zu platzieren. Zumal das ja auch gelogen ist. Denn ich schaffe sehr wohl und sehr viel. Halt ohne Arbeitsvertrag und mein Lohn setzt sich aus ein paar Stunden frei verfügbarer Zeit, Liebe und im besten Fall Dankbarkeit zusammen. Papa bringt das Geld nach Hause und ich teile es ein. Ich kann ohne weiteres für ein verlängertes Wochenende verschwinden; Ich muss nicht einkaufen oder vorkochen, muss nicht erklären, welche Kleider zu welchem Kind gehören oder wer welche Einschlafrituale braucht. Mein Mann kennt seine Kinder, spricht mit ihnen über Gefühle, interessiert sich für ihren Alltag und ermutigt sie, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es wollen. Das finde ich schon ziemlich revolutionär. Ich fühle mich privilegiert, obwohl ich momentan ein einem etwas altmodischen Modell lebe. Starke Frauen müssen nicht zwingend laut, erfolgreich, dauergestresst oder unzufrieden sein. Vielleicht liegt unsere Stärke manchmal darin, dort unbeirrt unsere Frau zu stehen, wo wir uns im Leben gerade befinden. Mit oder ohne Arbeitsvertrag. Laut oder leise. Bezahlt oder unbezahlt.

GENDER ALI DA? – Ich sehe Sternchen. Mir hat niemand auf den Kopf gehauen und es ist auch nicht das Bier von gestern. Ich schreibe und zerbreche mir mal wieder den Kopf über genderneutrale Formulierungen. Mir liegt nichts ferner, als das Thema als Furz der modernen Gesellschaft abzutun. Im Gegenteil. Mein Problem ist nicht, dass ich es nicht tun will, sondern dass ich auf keinen Fall einen Fehler machen will. Seit ich neben Rechtschreibung und Kommasetzung auch noch darauf achte, dass sich kein Mensch ausgeschlossen fühlt, ist der Stresspegel enorm gestiegen. Diese ständige Angst, etwas zu übersehen. Ich war schon immer eine perfektionistische Schreiberin, aber Grammatikfehler hat wenigstens niemand persönlich genommen. In dem Deutsch, das ich gelernt habe, existierten Wörter wie jemensch und xier noch nicht. Ich bin keine Vorreiterin in dieser Sache, sondern eine Lernende. Ich mache Fehler, jedoch nicht bewusst und obwohl ich es nicht möchte, trete ich hin und wieder jemandem auf die Füsse. Darf man das Wort man überhaupt noch benutzen? Manche finden ja, manche nein. Die Genderneutralisierung sollte nicht das Hauptthema meiner Texte sein, sie sollte nebenher passieren. Im Moment ist es jedoch unumgänglich, meine Adressat:innen zum Hauptthema zu machen. Es erfordert Achtsamkeit. Neuartige Wörter, die ich beim Sprechen nie verwenden würde, gehen mir schwer von der Hand. Ich versuche, heikle Stellen zu umgehen, rede öfter um den heissen Brei herum. Es muss halt alles gelernt sein. Mensch gewöhnt sich schnell an Veränderungen, irgendwann sind die Veränderungen Alltag. Wahrscheinlich bringt mich dieser Text in ein paar Jahren zum Lächeln. Wie wenn ich jetzt daran denke, wie überfordert ich in der ersten Klasse mit dem Alphabet war.

INVULVIERT – Wir müssen damit rechnen, dass das 10-jährige Kind schon mit Pornografie in Berührung kam. Krass. Unsere Pornos waren die Bravo-Fotostorys. Wir dachten, wir seien modern und wüssten alles über Liebe, Sex und Zärtlichkeit. Dabei hatten wir von Tuten und Blasen keine Ahnung, waren verklemmte Grossmäuler. Viele Frauen in meinem Umfeld wurden aufgeklärt, indem die Mutter Kondome auf den Schreibtisch legte. Oder sie zur Frauenärztin schickte. Da hätten sie ja Fragen können, nur.. welche Vierzehnjährige will schon mit einer Fremden über die peinlichste Sache der Welt sprechen? Bei uns drehte sich Aufklärung um Verhütung, Aids und darum, dass man besser keinen Sex hat. Gefühle, gesunde Grenzen, Selbstliebe oder Sexualanatomie waren kein Thema. Die Sexualkunde in der Fünften bestand darin, zwanzig verschiedene Verhütungsmittel durchzuarbeiten, Kondome über Bananen zu streifen und Tampons unter den Wasserhahn zu halten. Es gab Comics mit abgemagerten Aids-Kranken. Einmal wurde es spannend, als das Thema Selbstbefriedigung auf den Tisch kam. Die Erklärung fiel knapp aus: Das sei, wenn man Sex mit sich selbst hat. Igitt. Die inneren Bilder waren verstörend. Keine von uns checkte, dass es das war, was heimlich unter der Bettdecke geschah. Highlights der sexuellen Weiterbildung waren die Altpapiersammlungen. Zuerst wurden per Mofa kräftig die Hormone über das Dorf ausgeschüttet – Helm cool am Lenker. Nur wer sozialen Selbstmord begehen wollte, zog das hässliche Ding an. Abends trafen sich alle im Papiercontainer, um die perfekt gebündelten Zeitschriften nach Pubertätsfutter zu durchsuchen. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an das Doktor Sommer-Team, das sich solche Mühe gab, noch so blöde Fragen einfühlsam und ausführlich zu beantworten. Das meistgelesene Wort in meinen frühen Teenagerjahren war wahrscheinlich Schwarm. Mein Schwarm sieht mich nicht an. Wie bringe ich meinen Schwarm rum. Mein Schwarm ist in meine beste Freundin verliebt. Ich glaube, mein Schwarm ist schwul. Wird das Wort noch gebraucht? Gross geworden sind wir sowieso und einige haben sogar an Wissen aufgeholt. Aber lasst uns doch bei unseren Kindern ein wenig invulvierter sein. Vielleicht bringen wir das Wort zurück und nennen polygame Verbindungen Vögel-Schwarm? Das wär doch lustig.

GUT. GENUG. – Es fällt mir schwer, noch nicht abgeschlossene Prozesse und Projekte für gut zu befinden. Oder sie gar als Erfolg abzustempeln. Solange etwas nicht zu Ende ist, geht es immer noch besser. Und was noch besser geht, ist noch nicht gut genug. Irgendwie logisch. Aber auch traurig. Denn die Anzahl der Dinge, die wir im Leben so abschliessen, ist ziemlich klein. 
Mir fällt spontan nur gerade etwas ein: Ausbildungen.  
Aber unsere Beziehungen, Karrieren, die Erziehung, Persönlichkeitsentwicklung und körperliche und mentale Gesundheit sind nur ein paar Beispiele für die ewigen Baustellen, aus denen unser Leben besteht. Es ist ein Zusammenspiel aus verschiedensten Prozessen, die zwischendurch vielleicht mal ruhen und sich gegenseitig ablösen, jedoch nie wirklich zu den Akten gelegt werden können. 
In meinem Leben gibt es gerade nur angedachte und allerhöchstens angefangene Projekte. Mein Lebensgefühl ist demnach grundsätzlich, erfolglos zu sein. 

Die Unzufriedenheit ist eine treue Begleiterin. Du nimmst sie kaum wahr, bis du sie loswerden willst, die blöde Gans ist wie ein Boomerang.
Ich würde gerne umdenken. Auch wieder ein Prozess – einer, den es sich lohnt, anzugehen. 
Denn wie befreiend ist es, den Weg als Ziel zu feiern. Den selbstauferlegten Druck, alles möglichst schnell möglichst gut zu machen, abzuschütteln. Die halb zurückgelegte Strecke zu betrachten und zu sagen: 
Das hat sich jetzt aber gelohnt. Auszusteigen und trotzdem stolz zu sein.
Ich stelle mir vor, dass die meisten Menschen am Ende ihres Lebens denken: 
Wenn ich gewusst hätte, dass die Prozesse nie ein Ende haben und der Boomerang immer wieder zurückkommt, hätte ich es lockerer genommen.
Ich hätte mehr in der Gegend herumgeträumt. Ausgeschlafen, als ich es noch konnte. Mehr getanzt, mehr Bier getrunken, Kuchen gegessen und geknutscht. Ich hätte mich öfter hingesetzt. Dinge grundlos auf morgen verschoben. Oder mir gesagt, dass ich es gut mache. Einfach so.

DIE MÜTTERMAFIA HEIZT SICH GEGENSEITIG INS UNGLÜCK

Veronika Schmidt (V.S.) ist Sozialpädagogin, Familien- und Paarberaterin, Sexologin und Buchautorin. Seit über 20 Jahren begleitet die vierfache Mutter und fünffache Grossmutter Paare und Familien. Sie gehört zu der Generation, die meine grossgezogen hat.

Ich habe mich mit ihr über den Zeitgeist, soziale Medien und Optimierungsdrang unterhalten. Über den Druck, dem wir als Familien und Paare, aber auch als Einzelpersonen heute ausgesetzt sind. Die schlechte Nachricht: Wir haben ein Problem. Die gute Nachricht jedoch ist, dass wir selbst bestimmen können, wie gross es ist.

 

Optimierung war schon immer ein Thema. Aber die Ansprüche an sich selbst, die Partnerin, den Partner und die Kinder sind «wahnsinnig gestiegen». Unsere Mütter hatten laut V.S. nicht ständig das Gefühl, beobachtet zu werden. Auch sie haben sich verglichen, aber der Vergleich war unmittelbarer. Er fand auf dem Spielplatz statt, oder auf Besuch bei einer anderen Familie. Danach kehrte man wieder in das eigene Leben zurück. Die Fotos auf den sozialen Medien können wir uns immer wieder ansehen. Es ist möglich, regelrecht in das Leben einer anderen Person einzutauchen und das über Jahre. Der Fokus ist bei vielen nicht mehr auf sich selbst gerichtet; der Blick geht nach aussen.

 

Wenn das eigene Leben im Vergleich zu dem der anderen immer schlechter abschneidet, 

hat das fatale Auswirkungen auf unseren mentalen Zustand.

Unser Leben muss «instagrammable» sein. Das heisst, es muss nicht nur gut sein, sondern auch – oder vor allem – gut aussehen. Alles was wir tun, ist ein Projekt, das wir zur Schau stellen und das mitverfolgt werden darf. Wir können nicht mehr einfach «sein» oder etwas «werden lassen». Die Gelassenheit, das Leben zu nehmen, wie es kommt, ist uns abhandengekommen. Und obwohl wir wissen, dass uns die viele Handyzeit nicht guttut, «braucht es oft eine handfeste Krise, um tatsächlich etwas ändern zu wollen.»

Es kann eine Depression sein, eine kaputte Beziehung oder finanzielle Probleme, die uns auf den Boden der Realität zurückholen. Bis dahin sei die Angst, «nicht dabei zu sein, nicht erfolgreich genug zu sein, nur Durchschnitt zu sein» stärker als die Vernunft. 

 

Dass uns dieses ständige Vergleichen anspornt, ist eine Illusion. Das wird im Gespräch schnell klar. Die Angst davor, abgehängt zu werden und nicht zu genügen, beschreibt die Therapeutin als lähmend. Nicht beflügelnd. 

Dass sich Eltern Sorgen machen – zum Beispiel darüber, was aus ihren Kindern wird – ist nicht neu. Die Zukunft ist ungewiss, Katastrophen gab es immer. Neu sei aber, dass die natürliche Angst vor dem Ungewissen überhand gewinne und eine ganze Gesellschaft lahmlege. Wir haben anscheinend verlernt, Kontrollverlust als Teil unseres Menschseins hinzunehmen. Der Stress ist gross und die Frage, ob es jemals reichen wird, erdrückend.

Das Internet gibt uns mehr, als wir ertragen können. Dass Angststörungen und Jugenddepressionen mit der Pandemie zugenommen haben, ist allgemein bekannt. Viele haben zum ersten Mal erlebt, dass das Leben sich schlagartig ändert und nichts mehr sicher ist. Dass gleich ein Krieg folgte, hat die Unsicherheit noch verstärkt. 

«Langeweile ist nötig, um auf die Idee zu kommen, etwas zu unternehmen.»

Heute wird jede noch so kurze freie Zeit mit dem Smartphone überbrückt. Es bleibt wenig Raum für spontane Ideen oder Zeit, um unsere Umwelt auf uns einwirken zu lassen und dort Inspiration zu finden. Die Eltern am Handy auf dem Spielplatz sind der Klassiker. V.S. ist überzeugt davon, dass «es etwas mit den Kindern macht, wenn man ihnen nicht beim Spielen zuschaut», sich nicht interessiert. In ihrem Buch schreibt sie, dass wenn es uns in 75 Prozent aller Fälle gelinge, uns so zu verhalten, wie wir es uns vorgenommen haben, das genug sei.

 

«Es braucht 21 Tage, um eine Verhaltensveränderung in Gang zu setzen,

90 Tage, um sie zu etablieren.» Das funktioniere auch bei Kindern. 

Um blöde Angewohnheiten loszuwerden, braucht es eine Strategie und den Willen, sie umzusetzen. Eine Strategie kann sein, das Smartphone zu Hause in der Küche zu lassen oder es nicht mit ins Bett zu nehmen. Die Angst, etwas zu verpassen, wird in den meisten Fällen nicht bestätigt. Im Gegenteil: Mehr Zeit für sich, mehr reale Kontakte und mehr Zufriedenheit seien das Ergebnis. V.S. kennt viele Mütter, die ein «Halbbusiness» auf Instagram aufziehen. Wenn es erstmal etabliert ist, weicht die Kreativität und die Freude dem Druck. Sie müssen posten. Sie können nicht «einfach nur spazieren gehen» oder etwas für sich machen. Es müssen gute Fotos her, die Follower müssen gefüttert werden. Und das Business lohnt sich oft nicht mal finanziell. Wenn wir also die Zeit aufrechnen, die für nichts investiert wird, ist das ziemlich traurig. 

 

Die Inspiration wird zum Leistungsdruck und dieser lastet nicht nur auf uns Erwachsenen, sondern auch auf unseren Kindern. Die Technisierung, Smartphones, soziale Medien, der Gruppendruck der Gleichaltrigen: Alles stürmt direkt ins Kinderzimmer. 

«Wandel kann man nicht aufhalten.» Aber die Themen der Gesellschaft müssten unbedingt Familien- und Beziehungsthemen werden.

Es ist wichtig, dass Eltern es aushalten, wenn ein Kind sich drei Jahre lang darüber beschwert, das einzige in der Klasse ohne Smartphone zu sein. Familien sollten darüber sprechen, wann sich das iPad wo befindet und wie es genutzt wird. Für mich heisst das:

Wir müssen vorher überlegen. Und uns wappnen; irgendeine Familie ist immer grosszügiger. 

Aber Beziehungsarbeit geht den Regeln voraus: «Kinder brauchen nicht nur Strukturen, man muss mit ihnen eine herzliche Beziehung leben. Ohne Beziehungsebene ist man schnell am Anschlag mit Kindern. Dann ist die Erziehung einfach Dressur.» Eltern müssen also lernen,

Zwischenmenschliches mit ihren Kindern zu leben und zum Thema zu machen und dann den Umgang mit gegebenen Umständen zu strukturieren. Und auch hier gilt für sie: Wenn sich ein Kind in 75 Prozent aller Fälle an die Familienregeln hält, ist das gut genug. 75 Prozent Gelingen in 20 Jahren Eltern-Kind-Leben sei realistisch, alles andere «total überzogen».

 

Paare kommen vor allem mit Ersterem in die Beratung und Familien mit Letzterem. Dabei hat für V.S. alles miteinander zu tun.

Respekt, Ehrlichkeit, Kommunikation, Zuneigung und Gefühle sind auch Kinderthemen. Regeln, Grenzen, Internet, Gamen, Aufgaben erledigen, Pornografie, Sucht und Depression sind auch Erwachsenenthemen.

 

Der Konsumdruck sei wirklich sehr krass. Früher gab es allgemein viel weniger zu konsumieren, die Beschränkung war gesellschaftlich gegeben. Heute muss man sich selbst beschränken, «was ja auch den Eltern unglaublich schwerfällt.»

Was wir sehen, löst in uns den Druck aus, etwas zu haben, zu tun oder zu sein.

Heute gibt es an jeder Hausecke etwas zu essen oder sonst etwas zu kaufen. Wir werden dauernd zum Konsumieren animiert. Videos, Freizeit, Essen, Kleider. V.S. Erinnert sich zurück: Früher habe man noch einen Wunsch gehabt und sich dann überlegt, wie man diesen umsetzen könnte. Man sei losgegangen, um zu finden, was man gesucht habe. Heute fliegt uns alles entgegen – wir müssen ständig nein sagen und widerstehen. «Die Botschaft ist: Wenn ich nicht konsumiere, bin ich nicht.»

 

Mich hat interessiert, worüber die Paare sich streiten. Die Themen bleiben offensichtlich dieselben. Kindererziehung und Geld seien nach wie vor die Spitzenreiter. Und Sex. Die einen sind unzufrieden, weil sie ihren idealisierten Sex nicht kriegen.

Bei vielen aber ist der Tag so voll ist, dass der Sex einfach wegfällt. Wer mit Handy ins Bett geht, hat laut der Therapeutin eher keinen Sex. Die Menschen hätten allgemein weniger, obwohl wir denken, alle hätten viel. Der meiste Sex finde immer noch in festen Beziehungen statt. Wer also denkt, dass viele Tinder-Dates im Bett enden, irrt sich. Aber auch bei Paaren hat er hat abgenommen: «Früher lag der Schnitt bei ein- bis zweimal mal pro Woche. Heute haben viele Paare einmal die Woche Sex und die haben viel. Allgemein nimmt er zwar mit dem Alter ab, aber es ist schon krass, wieviel Paare keinen Sex mehr haben. Paare, die das Sexleben nicht etabliert haben und sich auf die Lust verlassen, haben meiner Erfahrung nach schlussendlich ein- bis zweimal im Monat Sex.»

Hinzu komme der Konflikt, dass sich beide verwirklichen wollen oder denken, sie müssten. 

Man will ein fortschrittliches Paar sein. Die Vorstellungen kollidieren früher oder später mit der Realität: «Es können nicht beide gleichzeitig.» Der Frust, der entsteht, wird zum Problem. Paare seien zwar tatsächlich gleichberechtigter unterwegs als früher. Trotzdem bleibt das Rollenmodell oft klassisch und viele landen wieder dort, wo sie nicht hinwollten. Ich finde es im ersten Moment schade. Für V.S. ist es logisch. 

«Alles relativiert sich im Ausnahmezustand», so ihr Argument. 

In anderen Worten: In der Krise wird es existenziell. Wo kommt das Essen her? Wo kommt das Geld für das Essen her? Wie bleiben wir gesund? Rollenbilder werden unwichtig, wenn es um das Wesentliche geht. Der Irrtum der Gesellschaft ist der, dass wir denken, wir brächten zur gleichen Zeit alles unter einen Hut. «Das System funktioniert oft nicht. Beruf und Familie verlangt nach einer Aufteilung. Aufteilung jetzt gerade oder in Etappen im Leben. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.» An dieses Prinzip glaubt fast niemand mehr. Wir denken, was wir jetzt loslassen, sei verloren. Man soll sich «fit halten, aber sich keine Illusionen machen.» Um die dreissig Eltern werden und gleichzeitig die Karriere auf den Höhepunkt zu treiben, sei nicht umsetzbar, ohne dass man irgendwo unschöne Kompromisse eingeht. 

 

Ausserdem haben nicht alle den Luxus, die edle Gleichberechtigung zu wählen. Viele müssen einfach schauen, dass genügend Geld reinkommt. Wer sich für Etappen entscheidet, kann auch einfach mal nur sein und muss nicht immer werden. «Vor allem sollten Paare lernen, ihr Leben in Phasen von 20 Jahren zu denken: Aufwachsen/Ausbildung – Paarbeziehung/Kinder – Karriere/Leistungsbereitschaft – Geniessen/für andere da sein.» Wenn wir uns nur nicht so schwertäten mit dem Älterwerden. 

Ich bin davon überzeugt, dass viele Junge Leute nur noch bis ungefähr fünfzig rechnen mit dem, was sie alles wollen. Die Zeit nachher zählt nicht. Die «Wirtschaft ticke so.»

Allerdings sei erwiesen, dass die meisten zwischen 50 und 60 nochmal zur Hochform auflaufen. Die Phase zwischen 30 und 40 bringe viele Zwänge und sei bei den Wenigsten die Hochphase. 

 

Ob Verzicht als Tugend oder als Schwäche gewertet wird, hat laut V.S. viel damit zu tun, was uns im eigenen Elternhaus vermittelt wurde. 

Viele sind es ihrer Meinung nach nicht gewohnt, auf etwas zu verzichten. «Für sie sind Kinder einer Art Accessoire. Ein recht anstrengendes, wie sie dann bald feststellen.» 

 

Wir müssen begreifen, dass Kinder eine Aufgabe sind, der wir uns stellen müssen. Und dass die Kinder nicht dazu da sind, uns glücklich zu machen. Was man in Kinder investiert, müsse in der Sinnhaftigkeit zuoberst stehen, sonst müsse man keine Kinder haben.

Sie hätten es doch verdient, dass wir ihnen Priorität einräumen. 

«Ich habe gewählt und jetzt erledige ich verantwortungsbewusst diese Aufgabe – so sollten Eltern denken.»

Sie räumt aber noch ein, dass ihr trotz allem auch viele Paare begegnen, die eine gemeinsame und gleichberechtigte Partnerschaft leben wollen und sich um präsente Elternschaft bemühen. Junge Paare seien heute tatsächlich offener, nachhaltiger, erfolgreicher, feministischer, selbstsicherer, selbstbestimmter und achtsamer als noch vor 30 Jahren. Trotzdem sei es nicht einfach, als Paar seinen Weg zu finden. 

 

«Die sozialen Medien haben alles verändert.» Vor allem das Smartphone habe alles verändert. Man kann mit der Affäre schreiben, während man mit der Familie am Esstisch sitzt. Paare reden weniger miteinander, unternehmen weniger zusammen, haben weniger Sex. Sie sind weniger aufmerksam, einander und den Kindern gegenüber. Abgelenkt. 

Es bedingt sich wohl gegenseitig: Wer glücklich ist, lässt sich nicht so von diesen Dingen beeinflussen und konsumiert sie wohl auch weniger. Und wer sie weniger konsumiert, hat wohl die bessere Chance, glücklich zu sein. «Fakt ist: Es tut tatsächlich nicht gut. Wenn es Jugendliche psychisch krank macht, wie die Facebook-Studie zeigt, dann gilt das sehr wohl auch für Erwachsene. Die sozialen Medien sind auch für sie eine regelrechte Selbsterniedrigungskeule. Die Mütter-Mafia heizt sich gegenseitig ins Unglück.»

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